KRIEG DER WORTE ODER DIALOG DER VERÄNDERUNG: DIE KUNST DES ÜBERZEUGENS AUF AUGENHÖHE MIT DEEP CANVASSING

Manchmal bin ich „late to the party“. Du auch?

Auch dieses Mal war ich es. (Tatsächlich ist mir das etwas peinlich – am liebsten wär ich vorn dabei oder halt still. ODER im Widerstand, damit ich auch weiter Recht haben kann)

Während viele schon längst nicht mehr darüber reden – zum Glück! – und sich andere militant gegenseitig beschämen und fertig machen deshalb, bin ich ohne derartige Konflikte erst diesen Februar auf fleischlose Kost umgestiegen.

Nicht dogmatisch, aber überzeugt. Wenn der Opa meiner Frau als Jäger ganz stolz am Sonntag Wild macht, halte ich bestimmt keinen Vortrag darüber, warum er das lieber lassen sollte. Auch wenn meine überzeugt vegetarisch essende Frau bei Too Good To Go ein Überraschungssackerl rettet und da überraschend doch Rindfleisch drin ist, wehre ich mich nicht. Ich will ja eigentlich auch wieder Fleisch essen. Aber so, wie ich die Welt gerade sehe, geht sich das für mich zurzeit zumindest aktiv nicht mehr aus.

Das hat gedauert. Von meiner Mutter hab ich einige Botschaften über Fleisch, Essen und Mannsein mitbekommen (die zu ihrer Zeit auch noch sehr sinnvoll waren! Ich glaube jedenfalls, sie meinte es auch gut). Noch etwas übrig am Teller? „Schwach!“ kommentierte sie regelmäßig – zwar etwas scherzhaft, aber die Botschaft hat gesessen.

Zusammen mit einem kulturellen Narrativ à la „Mein Schnitzi is ned deppad“, wie eine kürzliche Dok1 Reportage zeigte („Leben ohne Schnitzel“, 16.05.2024), war ich lange überzeugt, dass viel Fleisch mich zum echten, starken Mann macht. Gesagt habe ich das aber nicht. Eher sowas wie: „Aber es schmeckt halt so gut“ oder „Das is halt was Gscheits!“ Manchmal war es auch einfach leichter, das zu tun, was alle um mich herum taten. Hauptsächlich aber Essen im Automatik-Modus.

Spannend, wie wir manchmal an alten Ideen festhalten, obwohl schon lange klar ist, dass es Zeit wäre, sich auch mal selbst zu hinterfragen.

Irgendwann kam dann alles zusammen: Meine Frau, die ohne großes Trara seit Jahren vegetarisch lebt. Unsere Hochzeit, die wir – gegen Widerstand und Überraschung einiger Verwandter und mit einiger Diskussion darüber – vegetarisch gefeiert haben. Und dann noch ein Video von Corinne Pelluchon, die über Tierfabriken und ihre Verbindung zum Klimathema spricht, als wären sie ein kollektives Scham-Thema – weit weg, unsichtbar, damit wir bloß nicht hinschauen müssen. Aus meiner Praxis der trauma-informierten psychologischen Beratung und Radikalen Ehrlichkeit weiß ich, dass sich hinter Scham fast immer alte, verkrustete Annahmen verstecken, die uns längst nicht mehr dienen.

Oha… Diese Erlebnisse und Gedanken arbeiten in mir.

Wandel durch Einsicht, nicht durch Zwang

Was ich an meinem eigenen Prozess sehe, ist genau das, was effektive Methoden für Einstellungs- und Verhaltensänderung oder moralischen Fortschritt wie z.B. „Deep Canvassing“ so wirksam macht. Es geht nicht darum, Menschen zu etwas zu zwingen oder sie mit Fakten zu erschlagen.

Es geht darum, Raum zu schaffen, damit sie

(1) die Entstehung ihrer eigenen Einstellungen verarbeiten können,

(2) mit der Berührtheit von anderen Menschen rund um ein Thema in Kontakt kommen und

(3) selbst zu neuen Erkenntnissen und Einsichten gelangen können – aber nicht müssen.

Stell dir vor, du stellst Fragen, hörst wirklich (!) zu, verstehst die Beweggründe deines Gegenübers und teilst deine eigene Berührtheit rund um das Thema in Form einer prägenden Geschichte. Das klingt fast zu einfach, oder?

Kein Druck, kein Zwang – einfach das Vorleben einer Überzeugung und das Zulassen eigener Reflexion.

Und das ist…

äußerst selten!

Ich hör dich schon laut aufstöhnen: „Da kannst du aber lang warten, bis Menschen ‚das Richtige‘ einsehen.“

Schon klar.

Wenn du überzeugt bist, dass du Recht hast und alle anderen „dumm“ oder „noch nicht so weit“ sind, dann dauerts einfach auch.

Vielleicht täuschst DU dich aber auch…

Interesse an Gesprächen, die wirklich etwas bewirken?

Denn der Teufelskreis der Überzeugungsschlachten ist fast schon ein Naturgesetz: Sobald Uneinigkeit aufkommt, versuchen wir reflexartig, andere zu überzeugen – direkt durch Argumente oder subtil durch Allianzen im Hintergrund (man denke an Gespräche bei der Kaffeemaschine).

Besonders in moralisch aufgeladenen Themen eskaliert das schnell. Wer sich für fleischlose Ernährung, gendersensible Sprache, Flugverzicht oder nachhaltige Investitionen entscheidet und andere überzeugen will, erlebt oft das Gegenteil: zähe Debatten, offenen oder verdeckten Widerstand. Das gleiche gilt für Veränderungen in Organisationen – neue Strategien, Visionen oder Kulturwandel. Hier sind es meist Vorstandsmitglieder oder HR-Verantwortliche, die von neuen Ideen überzeugt sind und sie durchsetzen wollen.

Was für die einen vernünftig und alternativlos erscheint, empfinden andere als Einschränkung oder Anmaßung („schon wieder so ein ‚Change'“). In hitzigen Diskussionen verfallen wir dann in alt-„bewährte“ Muster und ziehen uns in unsere gedanklichen Schützengräben zurück von wo wir unsere Argumente wie rhetorische Granaten abfeuern. Dabei verlieren wir das Fundament für echten Wandel: Verbindung zueinander.

Das eigentliche Problem dabei: Die Annahme „Ich habe Recht, du liegst falsch“ kombiniert mit sozialem Druck (à la Schamgefühle beim Abweichen von der Norm) führt zu Veränderungsresistenz. Wir machen zu, werden härter (tatsächlich auch im Körper angespannter), atmen flacher und lassen unsere Argumentations- und Rationalisierungsmaschinen auf Hochtouren laufen, um uns möglichst schnell die gewünschte Überlegenheit zu bescheren. 

Egal, ob wir unsere kriegerischen Impulse ausagieren oder manipulativere Taktiken anwenden – die Dynamik aus der „Ich weiß es besser-Du bist falsch“-Haltung bleibt dieselbe – und sie ist toxisch.

Nach solchen Auseinandersetzungen ist aber klar: Niemand ändert seine Überzeugungen, nur weil er in einem Streitgespräch „vernichtet“ oder heimlich zu anderen Ideen geführt wurde. Dann lassen wirs doch sein, oder?

Der Schlüssel: Echte menschliche Verbindung

Was wirklich fehlt, ist nicht eine überzeugendere Argumentation, mehr Fakten oder größerer Druck, sondern eine frische Art der Interaktion, die es ermöglicht, dass Veränderung durch eigenständige Einsicht geschieht. Denn Wandel entsteht meistens nicht, indem wir lauter schreien oder besser argumentieren, sondern indem wir echte Verbindungen aufbauen.

Ein Ansatz, der das Potential hat, die festgefahrenen Fronten zu durchbrechen, ist dabei das Deep Canvassing, das sich insbesondere bei der US-Präsidentschafts-Wahl 2020 einen Namen gemacht hat. Damals hat es dafür gesorgt, dass viele Swing Voters schlussendlich für Joe Biden an die Urne gingen. Ursprünglich von LGBTIQ+-Aktivist:innen entwickelt, um in den USA gegen tief sitzende Vorurteile anzukämpfen, hat Deep Canvassing bewiesen, dass es möglich ist, Menschen nicht nur oberflächlich, sondern tiefgreifend zu erreichen – und sogar ihre Meinung zu ändern. Wenn sie bereit dafür sind.

Deep Canvassing geht tiefer als das klassische „Überzeugen“. Es basiert auf der Annahme, dass Überzeugungen nicht durch Fakten alleine geändert werden, sondern durch die Auseinandersetzung mit den tiefen, oft emotionalen Wurzeln dieser Überzeugungen. Es erfordert Mut, Respekt und das Einfühlungsvermögen, sich auf die Welt des Anderen einzulassen – selbst wenn sie sich radikal von der eigenen unterscheidet.

Interesse an Gesprächen, die wirklich etwas bewirken?

Wie es funktioniert: Vom Kampf zum Dialog

Das Prinzip ist einfach: Anstatt in einem Gespräch sofort die eigene Meinung durchzudrücken oder defensiv zu werden, wenn wir etwas anderes hören als „geplant“, starten wir damit, Fragen zu stellen.

Und dann kommt ein entscheidender Schritt: Ich höre zu. Denn, wenn ich wirklich zuhöre – wirklich, wirklich zuhöre – ohne nur auf die eigene Agenda zu achten, sobald der andere aufhört zu sprechen, dann entsteht zwischen uns schön langsam das Geheimnis der Effektivität dieser Methode: Raum für Verbindung, für echten Dialog – einen Dialog, in dem der Andere merkt, dass seine Erfahrungen und Überzeugungen wertgeschätzt werden, auch wenn man nicht derselben Meinung ist. Die Idee ist, die Welt durch die Augen des Gegenübers zu sehen.

Ein zentraler Aspekt von Deep Canvassing ist daneben auch das Erzählen persönlicher Geschichten. Diese Geschichten sind der emotionale Katalysator, der es ermöglicht, Menschen auf einer tieferen Ebene zu erreichen. Wenn ich meine eigene Verletzlichkeit, Berührtheit, Bewegtheit zeige, kann ich eine Tür öffnen, durch die auch mein Gegenüber seine oder ihre Maske fallen lassen kann.

Also noch einmal zum Mitschreiben:

  1. Starte das Gespräch mit echtem Interesse und ehrlichen Fragen
  2. Höre aufmerksam zu (wirklich zuhören!) und finde heraus, was der Ursprung der Überzeugung deines Gegenübers ist
  3. Teile deine eigene Geschichte, die der Ursprung deiner Überzeugung ist oder die deine Überzeugung repräsentiert
  4. Zeige Verständnis für die Meinung deines Gegenübers. Jeder will irgendwo dazugehören. Dieses Gefühl zu gefährden führt mit Sicherheit zu verhärteten Fronten.
  5. Warte ab. Oft ändern sich Meinungen nicht in einem Gespräch. Manchmal braucht es ein bisschen Zeit, bis neue Einsichten sickern. Manchmal ändert sich auch gar nichts. Manchmal ändert sich auch deine eigene Meinung. Sei offen dafür, was sich zeigt.

Die große Gefahr: Wenn der Dialog zur Strategie verkommt

Wie so oft hat aber auch diese gut gemeinte Methode ihre Tücken. Deep Canvassing – wie es oft trainiert und vermittelt wird – hat das Risiko, selbst zum Instrument von Manipulation und Kontrolle zu verkommen. Im Versuch, das Richtige zu tun, passiert es leicht, dass das Gespräch nicht mehr auf echter Augenhöhe stattfindet, sondern nur noch als Taktik genutzt wird, um den Anderen „umzupolen“.

Das Problem? Sobald jemand merkt, dass er oder sie nicht als Mensch, sondern als zu überzeugendes Objekt behandelt wird, geht das Vertrauen flöten. Dieser Vorgang hat auch einen Namen: Objektifizierung. Und das machen wir regelmäßig. Nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch mit uns selbst.

Das Ergebnis? Kein Dialog, sondern Manipulation – und das geht früher oder später nach hinten los. Wenn sich Menschen zu sehr an schmierige Verkaufsgespräche erinnert fühlen – und sei es Tage später – dann kommt der Bumerang wieder ratzfatz zurück. Da ist er, der sogenannte Bumerang-Effekt, der einsetzt,  wenn sich Menschen angegriffen oder bevormundet fühlen. Hat der erst einmal zugeschlagen, so ändert sich die Meinung des Gegenübers oft ins krasse Gegenteil. Gleichzeitig sind die Schutzschilde dann noch viel, viel weiter oben, als zuvor. Vertrauen ist verspielt. Das war schon das Ergebnis von so manchen Veränderungsversuchen von Organisationen.

(Kein Wunder eigentlich, dass sich zurzeit an den Einstellungen vieler Menschen wenig ändert – werden sie doch seit Jahren mit immer dreisteren Versuchen beschossen, ihre Aufmerksamkeit zu steuern und damit auch ihre Geldbörsen zu öffnen)

Wie sich Überzeugungen wirklich verändern: Selbst-Erkenntnis ist mehr als Nice-to-have

Ein Highlight meiner diesjährigen Ferienlektüre ist David McRaney’s Buch „How Minds Change“ mit faszinierenden Einsichten in den Prozess der Überzeugungsänderung. Er betont, dass echte Überzeugung ohne Zwang funktioniert, sondern vielmehr einen Prozess darstellt, bei dem Menschen schrittweise zu einem neuen Verständnis ihrer eigenen Überzeugungen geführt werden.

Damit das auch wirklich einsinken kann: Der aktuellste Stand der Forschung zeigt, dass sich Menschen nur dann ändern, wenn sie selbst ihre eigenen Überzeugungen ändern. Wenn sie also selbst „einsehen“, dass etwas anderes passieren sollte oder könnte. Wie das alte Bonmot so meint, ist Selbst-Erkenntnis insofern tatsächlich der erste Schritt zur Besserung und nicht bloß ein netter, aber verzichtbarer Effekt vom nächsten Kommunikationsseminar.

Eine der tiefsten Erkenntnisse des Buches ist, dass Gewissheit (certainty) eher ein Gefühl als ein logischer Zustand ist – ähnlich wie Hunger oder Durst, und genauso schwer zu beeinflussen​.

McRaney zeigt, dass die Angst vor sozialer Ausgrenzung oft stärker ist als die vor physischen Konsequenzen. Aus meiner eigenen Beratungs- und Coaching-Praxis weiß ich, dass Scham-, Schuld- und Stolz-basierte Glaubenssätze unsere größten Beschränkungen sind.

Menschen halten an Überzeugungen fest, von denen sie sich soziale Sicherheit erwarten, auch wenn sie längst nicht mehr relevant sind.

Ich erinnere mich dabei an Gebhard, meinen ehemaligen Chef bei Teach For Austria, der schon vor sieben Jahren vorgeschlagen hatte, die Sommerakademie für die neuen Programmteilnehmer:innen vegan abzuhalten. Damals war ich im Widerstand. Genauso wie das Küchenteam des Studentenheims, mit dem ich mich verbündet fühlte. Ich wollte auf meine „Berni-Würstel“ (wie ich sie seit meiner Bundesheerzeit genannt habe) nicht verzichten.

Das erklärt natürlich auch, warum tief verwurzelte Meinungen so schwer zu ändern sind. Im Rahmen meiner derzeitigen Podcast-Serie über die Immunity To Change in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und Organisationen entdecke ich immer wieder ähnliche Muster.

Schließlich unterstreicht McRaney, dass niemand unerreichbar ist, solange wir den richtigen Ansatz wählen und wirklich bereit sind zuzuhören, statt zu debattieren​.

Ähnliche Erkenntnisse.

Klare Implikationen.

Der Mut, zu lernen

Diese Ansätze und insbesondere Deep Canvassing erfordern Mut – nicht den Mut, lauter zu sein, sondern den Mut, offen zu sein. Offen dafür, dass wir auch selbst wachsen und uns verändern können.

Das Kriterium für echte Offenheit? Wenn du auch selbst bereit bist, deine Meinung zu ändern. Die meisten denken, sie seien es, spielen anderen (und sich selbst) ihre Offenheit aber eher vor, als sie wirklich zu leben.

In einer Welt, in der so viele Gespräche zu Konfrontationen und Schauplätzen von Druck und Gegendruck werden, ist dies tatsächlich eine radikale Idee. 

Der Unterschied liegt darin, ob wir wirklich bereit sind, den anderen Menschen als Mensch zu sehen (dafür müssen wir natürlich auch uns selbst zuerst einmal als Mensch sehen und menschlich sein lassen, mit all der unvernünftigen, erratischen Natur, die uns auch ausmacht).

Late To The Party?

Ich kann jedenfalls anerkennen, dass ich „late to the party“ bin, keine Frage. Aber zumindest gehe ich hin. Nicht, weil jemand das von mir verlangt, sondern weil es mir mittlerweile einleuchtet, dass das gerade einfach gut und richtig ist.

Es geht auch gut, gesund und äußerst männlich ohne Fleisch! 😅

Gleichzeitig ist auch klar: Ich freu mich darauf, wieder Fleisch essen zu können.

Was es dafür braucht? Dass wir alle miteinander weniger davon essen. Einmal im Monat?

Voll gut.

Da würd ich auf keinen Fall „Nein“ sagen zu einem guten Schnitzi.

Bis dahin geht’s aber auch so. Und mein Körper sagt „Danke“.

Etwas besorgt bin ich schon bei diesen Selbstoffenbarungen, dass ich jetzt Beschämung, Ärger und Zynismus von eingesessenen Fleischfresser:innen auf der einen oder eingesessenen Veganer:innen auf der anderen Seite ernte, aber… passt schon.

Teilweise wohl auch verdient.

Was ich zeigen will: Meinungen können sich ändern. Manchmal auch schneller.

Also: Wo bist oder warst du mal „late to the party“?

Zeit für ein Upgrade!

Wenn du das Gefühl hast, dass herkömmliche Debatten, Überzeugungsstrategien und Veränderungsversuche zurzeit ins Leere laufen oder unter dem Potenzial bleiben, dann lass uns reden.

Echte, transformative Gespräche sind der Skill, der uns von Maschinen unterscheidet.

Ob Workshop oder Coaching – Deep Canvassing bietet das Potenzial, echte Verbindungen zu schaffen und Menschen zu überzeugen – ohne Manipulation, ohne versteckte Agenda.

Ich freu mich, mit dir in Kontakt zu kommen!